Acta betreffend " bestimmter Zustände in den Dörfern Stolpe und Wankendorf"

Von Volker Griese

in: Jahrbuch für Heimatkunde im Kreis Plön, 37 Jg. 2002

Arme haben die Kinder, Reiche die Rinder.
(Sprichwort)

Als im Winter 1844/45 durch die ungewöhnliche Kälte die Wintersaat in weiten Teilen des Landes ausfror, im Frühjahr schließlich umgepflügt und durch die Kartoffel ersetzt wurde, schien zumindest die Grundernährung gesichert zu sein. Die Pflanzen gediehen auch gut, doch im Verlauf des Julis wurden sie von einer zunächst bisher nicht gekannten und längere Zeit auch nicht enträtselten Krankheit befallen. Es handelte sich um die Kartoffelfäule (Phytophtora).

Die Ernte zeigte dann regionale Unterschiede, von Landstrichen mit Totalausfall bis hin zu verschonten Regionen, doch grundsätzlich war der Schaden enorm. Noch Ende September 1845 stiegen die Kartoffelpreise um rund 50% an. Hinzu kam durch das im Winter ausgefrorene und somit fehlende Getreide gingen auch eine Erhöhung der Getreidepreise und da-mit höhere Brotpreise einher. Immer zahlreicher wurden die Personen, die ihre Lebensbedürfnisse nicht mehr recht bestreiten konnten, der Unterstützung bedurften, und die ersten Hilfs-maßnahmen wie Suppenanstalten wurden in den größeren Ortschaften eingerichtet.1 Doch es sollte noch schlimmer kommen. Auch die Ernte des Jahres 1846 erfüllte in keiner Weise die in sie gesetzte Hoffnung. So wurde mit Datum vom 13. Juli aus Plön gemeldet, dass in der ge-samten Umgebung die Kartoffelfäule wieder Einzug gehalten hat und "zu den ernstesten Befürchtungen"2 Raum gibt. Und diese Befürchtungen waren richtig. Keine Region wurde diesmal verschont. Die gesamte Ernte lag zwischen einem Viertel und der Hälfte eines Normaljahres. Die noch vom Vorjahr hohen Lebensmittelpreise zogen weiter an, diesmal auch die Vieh- und Butterpreise. Der Druck der mehr und mehr verelendenden Tagelöhner wuchs. Die letzte große klassische Hungersnot in Europa strebte ihrem Höhepunkt entgegen; allein in Irland starben hunderte von Menschen an den Folgen von Unterernährung.

In den Güterdistrikten waren von der Katastrophe biblischen Ausmaßes vorwiegend Landar-beiter ohne Besitz betroffen, die durch die Segnungen der Aufhebung der Leibeigenschaft 1805 zwar nunmehr frei geworden, doch damit auch zu einem Großteil ihrer angestammten Arbeit verlustig gegangen waren. Die Hufner, die zuvor von den Gutsherren zu Hofdiensten verpflichtet waren und zu diesem Zweck Knechte und Mägde über den eigenen Bedarf auf ihren Höfen gehalten hatten, bewirtschafteten die ihnen nunmehr in Erbpacht gegebenen Stellen mit nur noch rund der Hälfte an Personal. Die andere, freigesetzte Hälfte verdingte sich den Sommer über so gut es eben ging als Zeitarbeiter/Tagelöhner in der Landwirtschaft oder zog als Arbeiter mit dem Straßen- und Eisenbahnbau. Der erarbeitete Lohn musste dann wäh-rend des Winters, wenn die Arbeit ruhte, für die Ernährung der Familie reichen.

Die Hungersnot, die weite Teile Europas umfasste und teilweise zu Aufruhr und Plünderungen führte, brachte auch in Schleswig-Holstein eine Zunahme an Diebstählen, und die ersten Aus-wandergruppen machten sich in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft auf den Weg in die USA.3 Doch trotzdem es an der Oberfläche gärte, blieb es in den Herzogtümern sonst ruhig.

Nachdem die Witterung des Frühlings und Sommers 1847 vielversprechend war, auch die Kartoffelfäule nicht wieder auftrat, wurde im Herbst erstmals nach Jahren wieder eine reich-haltige Ernte eingefahren. Die Lebensmittelpreise stiegen nicht weiter an, ja, in Einzelfällen wird sogar ein leichter Rückgang beobachtet.4 Doch die Not nahm nicht ab, so dass sich der Staat entschloss, die Einfuhrzölle auf Korn, Grütze und Mehl sowie die Abgaben der einlaufenden Schiffe aufzuheben, um dadurch Einfuhren an Nahrungsmitteln zu erleichtern.

Eine Besserung konnte aber auch damit nicht erreicht werden, denn schon im folgenden Jahr 1848 begann die Erhebung und der Krieg Schleswig-Holsteins gegen den dänischen Staat. Die provisorische Regierung in Kiel setzte zwar noch im selben Jahr eine Kommission ein, die sich mit der Instenarmut - der Entstehung und deren Abhilfe - befassen sollte, doch im Gefolge der politischen und militärischen Auseinandersetzungen blieb es bei dem Ansatz. Als mit der Wiederherstellung der landesherrlichen Rechte des dänischen Königs 1851/52 die Freiheitsbewegung ihr Ende fand, folgte eine Zeit der Restauration. Die Lebensmittelpreise blieben insgesamt während der unruhigen Zeiten auf einem hohen Niveau und sanken auch danach nicht, im Gegenteil. Die ruhigeren Zeiten ließ die Wirtschaft in den Städten wieder in Gang kommen; Geld kam ins Land. Hinzu kam: Hohe Preise geben auch immer der Spekulation Raum, und so zogen immer mehr Höker und Kaufleute, die in den Städten zu Geld gekommen waren, über Land, um Getreide und Vieh aufzukaufen.

Zu teuren Lebensmitteln verarbeitet gelangten sie wieder zurück in die Region. Die Preise zogen weiter an und erreichten 1854 den höchsten Stand des gesamten Jahrhunderts. Fast täg-lich verlangten die Bauern gegenüber den Aufkäufern jetzt einen immer höheren Preis.5 Der einfache Tagelöhner hatte das Nachsehen; sein Lohn blieb während der Jahrzehnte nahezu gleich. Nur ein Bruchteil der Kaufkraft von einst betrugen seine mühsam erworbenen Schillinge noch. Weite Teile der Bevölkerung verelendeten;6 immer mehr Menschen begannen nun in die USA auszuwandern.

II.

Es ist das Jahr 1854, in dem der Papst das Dogma von der unbefleckten Empfängnis verkünde-te, Goebel den Vorläufer der Glühbirne entwickelte, Ludwig Freytag .Soll und Haben' schriebe als eine Region inmitten Holsteins und bestimmte Zustände in das Blickfeld des dänischen Staates gerieten und zahlreiche Briefe ihren Adressaten wechselten.

Am l. Januar 1854 erhielt der Bornhöveder Pastor, zu dessen Kirchspiel weite Teile des Gutes Depenau gehörten, eine Aufforderung des Vorsitzenden der "Deputation des adeligen Güter-districtes Preetz", Herrn Hofjägermeister Graf v. Baudissin auf Sophienhof, über gewisse Zu-stände im Gut Depenau speziell in den Dörfern Stolpe und Wankendorf zu berichten. Nicht bekannt ist, ob der Anstoß durch eine routinemäßige oder außerordentliche Sitzung der Deputation oder durch äußeren Anstoß erfolgte, z.B. durch das königliche Ministerium.

Pastor Christian Nikolaus Bruhn (1796-1863), ein intimer Kenner der Sorgen und Nöte der Bevölkerung, " antwortete schon am 2. Januar, verwies allerdings darauf, dass er für eine aus-führliche Antwort sich zunächst noch ein paar Daten zu verschaffen hätte. Der Bericht selbst folgte dann am 9. Januar.

Bruhn arbeitete als Ursache der angespannten Zustände fünf Punkte heraus. Da wäre erst einmal der unbefriedigende Zustand, dass der Besitzer des Gutes nicht auch gleichzeitig Besitzer der Dörfer sei'' und somit die Arbeiter ganz "herrenlose" wären. Auch bildete das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, vor allem im Winter, ein grobes Missverhältnis. Auch wären 162 Arbeiterfamilien und 21 Witwen ohne Altenteil und Eigentum. Weiterhin herrschte durch allzu liberal gehandhabten Zuzug von den umliegenden Gütern und damit von nicht Heimatberechtigten eine starke Überbevölkerung. Die Hausbesitzer nutzten dies in natürlicher Weise aus, und bauten aus "jeder entbehrlichen Ecke ihres Hauses" eine Kamner, die vermietet würde. Diese Familien wären aber durchweg junge Leute, und ihre Kinder hätten somit zukünftig Heimatrecht, so dass die Überbevölkerung weiter anwüchse, und dadurch der Stand der Armen sich in Zukunft noch weiter verstärken werde. "Was nah in Zukunft daraus werden soll, vermag ich nicht abzusehen." Als letzten Punkt gab Bruhn an, dass bei der gegenwärtigen Teuerung die Familien der Arbeitslosen den Lebensunterhalt nicht erhalten könnten, außer durch Einbrüche, die - wie die Bauernvögte der beiden Dorfschaften ihm gegenüber durchaus glaubhaft vermeldet hatten - nunmehr fast jede Nacht stattfänden und die haupt-sächlich auf "Mundvorräthe, auf die Speisekammer" ausgerichtet seien. Anscheinend würden die Personen stehlen ohne sich zu schämen und/oder zu fürchten. Und hier ließe sich auf alle Fälle etwas unternehmen, wenn die Gerichtsbarkeit des Gutes Depenau nur härter durchgreifen würde. Aber der zuständige Justitiarius Boie entwickelte eine "Gutmüthigkeit mit Glanz", so dass niemand mehr mit dem Beistand der Behörde rechnete. Wer dies in Abrede stellen würde, der "kennt die Chronik der Depenauer Gerichtstage nicht." Diese Laschheit ist aber gerade in Notzeiten wie der herrschenden von "entsetzlichem Nachtheit" auf die Moralität.

Besonders hervorgehoben wurde dafür der Einsatz der fern vom Geschehen in Hamburg wohnenden Dorfbesitzer, die auf freiwilliger Basis 200 Reichstaler gespendet hatten; eine gleiche Summe wurde innerhalb der Gemeinde gesammelt. Insgesamt reichten die Mittel aus, damit 57 to Roggen bzw. dessen Mehl für drei Monate - bis Ende März - an ca. 100 bedürftige Familien ausgeteilt werden könnten.

Nur wenig später am 12. Januar erstattete daraufhin der Vorsitzende der Deputation des Güterdistriktes seinen Bericht "betreffend der Zustände der Depenauer Dörfer Stolpe und Wankendorf" an das königliche Ministerium für die Herzogtümer Holstein und Lauenburg, der zunächst basierend auf Pastor Bruhns Ausführungen eher die Lage referiert. "Die unterzeichnete Deputation muß es sich erlauben, dem Königlichen Ministerio die größtentheils durch die jetzige Theuerung veranlaßten Zustände in dem zum Gute Depenau gehörenden Dörfern Stolpe und Wankendorf zur Kenntnisnahme zu bringen, da diese Zustände nicht allein für die Bewohner der genannten Dörfer, sondern auch für die Umgegend als Gefahrdrohend erkannt werden müssen. ... In beyden Dörfern wohnen gegemwärtig 21 Vollhufner, 14 Halbhufner, 23 Landinsten, 29 l. oo?]11 und außer den Arbeitern, die in Hofkathen wohnen und am Hofe regelmäßige, beständige Arbeit haben (24 an der Zahl), sind noch 162 Arbeiterfamilien und 21 Witwen ohne Eigenthum und ohne Altentheil vorhanden.

Diese Familien erwerben ihren Unterhalt großenteils dadurch, dass die Männer im Sommer in der Fremde Arbeit suchen, wo solche zu finden ist, wie bey Eisenbabnbauten oder dergleichen, und von dem im Sommer erworbenen Verdienst nothdürftig sich den Winter durch erhalten, da es ihnen dann selten gelingt, Arbeit zu finden.

Die jetzt [...?] Theuerung aber veranlaßt, dass die geringen Mittel, welche diese Arbeiter während des Sommers erübrigt haben, verzehrt sind und jetzt eine äußerste Noth herbeygefübrt hat, welche, da die Leute nicht verhungern können, veranlaßt, dass die Unsicherheit des Ei-genthumes in der nächsten Umgebung auf eine traurige Weise zunimmt."

Hervorgehoben wird weiter, da es "höchst schwierig" sein würde, eine größere Armenunterstützung durch die Kommune direkt zu veranlassen, die freiwillig erfolgte Spende der Dorf-herrschaft. Dabei wird anders als im Bericht von Pastor Bruhn klar dargelegt, dass es sich bei dem verteilten Roggen nur um den sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein gehandelt habe.

Quintessenz des Berichtes und Vorschlag zur Besserung der Lage ist zunächst einmal die Ernennung eines Untersuchungsbeamten, der die Machtbefugnisse hat, "auf Kosten des Gutes Depenau diejenigen polizeilichen Maaßregeln zu treffen, velche erforderlich seyn mögten, um die Sicherheit des Eigenthumes wieder herzustellen." Ferner müssten die Dörfer - da die Armensteuern und freiwilligen Kollekten die Armenkasse nicht mehr ausreichend füllen konnte - verpflichtet werden, um die notwendigen finanziellen Mittel für die Armenunterstützung her-beizuschaffen, eine "allmählig viederum abzutragende Anleihe abzuschließen." Verschuldung und restriktiveres Handhaben der Gesetze sollten somit die Armut eindämmen helfen.12

Aufgrund dieses Schreibens wurde v. Baudissin mit Brief vom 18. Januar vom Ministerium für die Herzogtümer Holstein und Lauenburg mit der näheren Untersuchung beauftragt und angewiesen, sich mit der Gutsverwaltung zu Depenau in Verbindung zu setzen. Selbst hatte man noch einmal alte Akten eingesehen und dabei festgestellt, dass schon im Jahre 1847 - demnach zur Zeit der großen Hungersnot - die Tagelöhner von Stolpe und Wankendorf um Verbesserung ihrer bedrängten Lage nachgesucht hatten und im darauf folgenden Jahre die Depenauer Gutsobrigkeit in Person des Gutsbesitzers Böhme zugesichert hatte, auf seine Kosten ein Armen- und Arbeitshaus zu errichten und auszustatten. Ob der Plan denn inzwischen zur Ausführung gelangt sei, darüber ist durch v. Baudissin Bericht zu erstatten.

Mit Schreiben vom 22. Januar wandte v. Baudissin sich nun an die für die Dörfer zuständige Verwaltungsobrigkeit zu Depenau in Person des Gutsbesitzers G. E. Böhme, und übermittelte die Verfügung des Ministeriums. Es wird darin "umgehend" ein Bericht über die Armenverhältnisse in Stolpe und Wankendorf abgefordert, aus dem eindeutig hervorzugehen hat, ob die inzwischen nach dem Verkauf 1815 selbständigen Dörfer eine eigene "Armencommü-ne" bilden oder ob sie - wie einmal im Jahr 1847 gemeldet - im Zusammenhang mit dem Gut verblieben sind. Aufklärung wurde auch darüber abgefordert, ob die 1848 "in Aussicht gestellte an eigene Kosten des Besitzers auszuführende Erbauung und Ausstattung eines Armen- und Arbeitshauses" zur Ausführung gelangt sei. Ferner wurde für den 27. Januar um 10 Uhr ein Ortstermin in der Stolper Gastwirtschaft "Pfeifenkopf" festgelegt. Hierzu erging an Böhme die Aufforderung, mehrere Personen vorzuladen: die Bauernvögte beider Dörfer, die Armenvorsteher, die seinerzeitigen Sprecher der Tagelöhner Hinrich Tietgen und Hans Sieck (beide hatten 1847 eine Beschwerde über die verzweifelte Lage der Armen bei der Regierung vorgebracht) sowie sonstige zu bestimmende Personen, die über die Verhältnisse Aufschluss erteilen könnten. Der durch v. Baudissin direkt eingeladene Pastor Bruhn konnte oder wollte nicht kommen. Die Klippe, einen Rat zu erteilen umschiffte er diplomatisch: "Wenn Euer Hochwohlgeboren ferner in Ihrem geehrten Schreiben mich auffordern, einen Rath zu erthei-len, so sehe ich mich dadurch in einige Verlegenheit versetzt, da hier, wo das Grundübel so tief vurzelt, und zwar in Verhältnissen, die einmal unabänderlich bestehen, virklich schwer ist, mit Vorschlägen hervorzutreten." Und so unterließ er es denn auch.

Nur wenige Tage nachdem v. Baudissin sich an Gutsbesitzer Böhme gewandt hatte, sandte er mit Schreiben vom 24. Januar auch eine Anfrage an die Verwaltungen der umliegenden Güterbezirke Kühren, Bundhorst, Ascheberg, Perdoel, Schönböcken, Bockhorn und Bothkamp, mit der Bitte, binnen acht Tagen sich darüber zu äußern, "ob im Laufe dieses Herbstes und Winters in ihrem Gute besonders viele, hauptsächlich auf Lebensmittel gerichtete, Diebstähle und Einbrüche vorgefallen sind:' Dieser Zirkularbrief traf zunächst am 26. Januar auf Gut Kühren ein, wurde von dort am nächsten Tag nach Bundhorst befördert und gelangte nach weiteren Stationen am 30. des Monats auf Gut Bothkamp an. Von dort ging es zurück nach Sophienhof, wo das mit den entsprechenden Unterschriften und somit die Bestätigung der Kenntnisnahme dokumentierende Schreiben am 4. Februar wieder eintraf.

Auf Grundlage des inzwischen stattgefundenen Ortstermins in Stolpe und der dort erfolgten Vernehmungen erstattete v. Baudissin am 5. Februar seinen Bericht an das königliche Ministerium. Als Grundübel der Zustände - nicht ohne dabei einen kleinen Seitenhieb auf die wohl mangelhafte Verwaltung von Seiten des Gutes mehr zwischen den Zeilen zu äußern -, arbeitete er erstens die "höchst eigentbümlicbe Lage der Dörfer, dem Königl. Min. völlig genau bekannt" heraus und die herrschende Überbevölkerung.

,,Es begründet sich dieses Verhältniß darauf, dass die beyden Dörfer eine große Zahl von Wohnungen besitzen, welche tbeilweise von den anliegenden Gütern, namentlich vom Gute Perdoel gemiethet worden, um den Leuten, welche daßselbe nicht unterzubringen vermag, oder lieber nicht bei sich wohnen laßen will, ein Unterkommen zu verschaffen. Freilich übernehmen in diesen Fällen die betreffenden Güter die Verpflichtung, die Armenkassen, welche die so eingemietheten der Depenauer Communen veranlaßen könnten [...?] auftragen, aber es entsteht dennoch durch dieses Verfahren, einmal eine noch größere Zahl von Arbeitssuchenden und anderen Theils, ein Zuwachs der Bevölkerung, die von Jahr zu Jahr drückender wird, weil die Kinder, welche von diesen fremden Familien im Gute Depenau geboren werden jedenfalls daselbst l...?] Rechte besitzen, sowie ferner in Betracht kommt, dass die auf diese Weise zugemietbete Familie gewöhnlich gerade solche sind, welche die betreffenden Guter sich am liebsten zu entledigen wünschen."

Weiterhin wird auf den beigefügten Bericht der Gutsobrigkeit Depenau verwiesen in dem die Armenabgaben referiert werden und aus dem die Gründe abzulesen seien, warum das angekündigte Armenhaus noch nicht errichtet wurde. Die Beschwerde Böhmes, dass er sich durch die in dieser Angelegenheit stattgefundene "Angeberei"wie er es nennt, gekränkt fühlt und den Schutz des Ministeriums anruft, wird kurz und trocken mitgeteilt.13

Dass die größte Not Dank der Spende der Dorfbesitzer für diesen Winter abgewendet werden konnte, bezeugten die vernommenen Bauernvögte, Armenvorsteher und auch die Sprecher der Tagelöhner. So gesehen scheint diese Maßnahme ausreichend, "um der durch die jetzige Theueriing hervorgerufene Noth genügend abzuhelfen" weshalb v. Baudissin sich nicht veran-lasst findet, "weitere Vorschläge in dieser Beziehung zu machen."

Der Vorschlag des Stolper Bauernvogtes Theeden, "es möge auf irgend eine Weise die Depenauer Communen in den Stand gesetzt werden, die Aufnahme fremder Familien, von denen sie Belästigung fürchten müßten, oder welche sie überhaupt nicht unter sich aufzunehmen wünschte, zu verweigern", wurde zwar mitgeteilt aber nicht näher erörtert. Und doch handelte es sich hierbei doch um die eigentliche Krux des Ganzen: Zwei Dörfer, in denen seit der Her-auslösung aus dem Gute Zuzugsfreiheit herrschte - die Dorfherrschaft besaß nur die Gebäude und den Boden und keine Verwaltungsinstrumente -, umgeben von Gütern, in denen eben dieses Heimatrecht noch restriktiv gehandhabt werden konnte.

Was die Diebstähle anbelangte, so stellte sich nach Befragen und Auswertung der Anfrage an die benachbarten Güterverwaltungen allerdings heraus, dass es sich gar nicht so sehr um eine allgemeine Zunahme von Mundraub gehandelt hatte, wie noch von Pastor Bruhn beschrieben: "Fast sämmtlicbe Vernommenen bezeichnen ausdrücklich das Dorf Stolpe als den Sitz dieser Diebereye n, zeigen aber offenbar die Befürchtung, durch nähere Bezeichnung der Urheber dieser Diebereyen, sich Verwicklungen und Unannehmlichkeiten zu veranlaßen. Diese Befürchtung scheint dem der Verhältnisse Kundigen eine sehr begreifliche zu sein, weil im Dorfe Stolpe eine Familie, bestehend aus Vater, Söhnen, Tochter und Schwiegersohn Namens Horn wobnt, welche, ohne ein bestimmtes Gewerbe zu betreiben, sich der allgemeinen Annahme nur von Diebereiyen ernähren, die sie mit außerordentlicher Frechheit und Gewandtheit ausüben und so gefürchtet sind, dass niemand im Gute Depenau sie anzugeben wagt, weil jeder bev dem Verfahren der dortigen Polizev und Justizverwaltung ihre Rache zu fürchten haben glauben muß." Insgesamt bestand die Diebesbande aus acht Personen. An die Scheune des Gast-hofs "Pfeifenkopf" schrieben sie einmal: "Wir sind unser acht, wir stehlen jede Nacht". Ein-mal machten sie einen Raubzug nach Köllingbek. Zurück gingen sie über Brammerberg. Dort brachen sie in die Speisekammer ein. Der Besitzer lag krank im Bett, der Sohn hielt bei ihm Wache. Er lief ohne Waffe hinaus, um die Diebe zu verfolgen, die sich Forken und dergleichen besorgt hatten. Sie ließen ihn ein ganzes Stück nachkommen und verprügelten ihn dann dermaßen, dass er einen schweren Bruch bekam und Zeit seines Lebens ein Siecher blieb. Er wurde verhört, verriet aber nichts, weil die Diebe ihm andernfalls den Tod geschworen hatten.14

Anscheinend wurde die Polizeiaufsicht, wenn überhaupt, recht lasch gehandhabt, wie wohl überall in den Güterbezirken, so dass v. Baudissin noch einmal extra darauf hinwies, dass das Ministerium, angeregt durch diesen Bericht, doch bitte möglichst bald die schon länger ange-kündigte Reform der Polizeiverhältnisse verwirklichen würde.15

Für die von Depenau aus verwalteten beiden Dörfer Stolpe und Wankendorf erfolgte der unmissverständlichen Vorschlag: "Dem Gute Depenau aufzugeben, die Polizeiaufsicht durch einen tüchtigen Polizeyofficianten temporair zu vermehren, zugleich aber dem Depenauer Justiziariate die Befehle ertheilen, aufs energischste die vielfachen dort begangenen Diebe-reyen zu untersuchen und zu bestrafen" Die noch im ersten Bericht vom 12. Januar an das königl. Ministerium getätigte Aussage, auch durch Verschuldung der Gemeinde die finanzielle Unterstützung der Einzelnen zu verbessern und somit der Not abzuhelfen unterblieb im Abschlußbericht. Verblieben ist dagegen das härtere polizeiliche Durchgreifen und somit be-schränkt sich der Vorschlag zu Abheilung der Not einzig und allein auf das restriktivere Handhaben der Gesetze.

Die einzigartige Situation, dass die Dörfer 1815 aus dem Gutsverbund herausgelöst und an einen privaten Investor verkauft wurden, hatte v. Baudissin zwar in seinem ersten Bericht vom 12. Januar dargelegt, auch wies er auf die Besonderheit hin, dass der Depenauer Gutsbesitzer Böhme die gutsobrigkeitlichen Verhältnisse, sowie die Gerichtsbarkeit und die Polizeiaufsicht führe, dagegen die Besitzer der Dörfer in Hamburg - damit fern der Verhältnisse - sich befän-den, wurde referiert, doch dass es sich hierbei um das eigentliche Problem handelte, darauf wurde nicht weiter eingegangen. Und in seinem Abschlußbericht wird der Mantel des Schwei-gens sanft über dieses Thema ausgebreitet: "Im Übrigen ist die höchst eigenthümliche Lage der Dörfer dem Königl. Min. völlig genau bekannt, weshalb der gehorsamt Unterzeichnete, dieselbe weiter zu entwickeln nicht für erforderlich hält". Doch im Grunde war es so: Den Besitzern gehörten die Gebäude und das Land, doch auf die Verwaltung, auf das Gut Depenau, konnten sie keinen Einfluss ausüben. Ihnen waren die Hände gebunden und sie konnten nur zusehen, wie immer mehr Personen sich ansiedelten. Und die Gutsverwaltung hatte auch kein Interesse, konnten doch unliebsame Personen aus dem Gut herausgehalten und in die Dörfer abgeschoben werden (denn ein Gutsherr hatte ein Mitspracherecht bei einem Zuzug auf sei-nem Grundbesitz). Das Armenwesen - durch Abgaben und freiwillige Spenden der Besitzenden bisher in einem austarierten Niveau - konnte die Lasten der immer mehr anwachsen-den Besitz- und Arbeitslosen nicht weiter auffangen. Dabei hatte immer die Versorgung und Unterstützung der einheimischen Armen Vorrang. Und wer galt als Einheimischer? Um das Heimatrecht zu erwerben, war ab 1808 ein dreizehnjähriger, ab 1829 sogar ein fünfzehnjähri-ger Aufenthalt vor Ort notwendig.16 Doch für die Verwaltung und Organisation des Armen-wesens war aber wiederum Gut Depenau zuständig und nicht die Ortschaften oder der Dorrbe-sitzer.

Somit blockierten sich beide, Dorfherrschaft und Gutsherrschaft und schon Pastor Bruhn brachte es in seinem ersten Bericht auf den Punkt: "Die Verhältnisse im Gute Depenau sind bekanntlich ganz eigenthümlicher Art, und kommt ein Ähnliches überall gar nicht weiter vor. Ein Unglück für das Gut (als Commune betrachtet) bleibt es, dass der Besitzer des Hofes nicht auch zugleich Besitzer der Dörfer ist."

III. Für die regional betrachtet überproportional vorhandenen besitzlosen Insten und Tagelöhner ergab sich dann durch den beginnenden Wirtschaftsaufschwung ab der Preußenzeit und hier speziell ab 1867, dass - aufgrund ausreichender und somit günstiger Arbeitskräfte - im Gefolge des Eisenbahnbaus Neumünster-Ascheberg-Neustadt zwei Großbetriebe sich in Wankendorf ansiedeln und etablieren konnten: die Sägerei J. C. Blunck und der Kornhandel mit Hotel und Mühlenbetrieb H. H. /J. F. Schlüter. Mit sich brachte diese Arbeiterschaft aber auch, dass sie schon bald fest in der Sozialdemokratie und nach 1918 in der kommunistischen Partei organisiert war und für ihre Rechte eintrat, von deren Sinn schon die Überlieferung ihr aufgezeigt hatte. Schon die Vorfahren, die sich über Jahrzehnte im 18. Jh. mit dem Gutsherren von Depenau gestritten hatten, ja, auch in offener Rebellion aufgetreten waren, lehrten sie den "aufrechten Gang".'' Noch in den Jahren 1893 und 1925 galt der inzwischen u. a. aus dem ehemaligen Gutsbezirk Depenau hervorgegangene Amtsbezirk Depenau, aufgrund der organi-sierten Arbeiterschaft, als "schwieriger Bezirk".18

Anmerkungen

1 Franz Stern: Möge denn erreicht werden, vas wir hoffen! Nortorfer Sparkassenarbeit seit 1847. Kiel 1988. S.186
2 Rendsburger Wochen-Blatt, 25. Juli 1846.
3 Für den 18. Mai 1847 vermeidet das "Rendsburger Wochen-Blatt" vom 22. Mai 1847 die Abreise der ersten 129 Personen umfassende Au.swanderergruppe von Holsteinern aus Eutin, Plön, Segeberg, Oldenburg und Neustadt.
4 Rendsburger Wochen-Blatt, 2. Oktober 1847
5 Siehe dazu auch Emil Waschinski: 'Währung. Preisentwicklung und Kaufkraft des Geldes in Schleswig-Holstein von 1226-1864. In: Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins. Neumünster 1952
6 Vgl. dazu auch Harm-Peer Zimmermann: Das disziplinierte Elend. Zur Geschichte der sozialen Fürsorge in schleswig-holsteinischen Städten 1542-1914. Neumünster 1994
7 Ludwig Peters: Synchonoptische Weltgeschichte. Frankfurt a. M. 2000.
8 Bruhn wirkte als Pastor in Dagebüll, Drelsdorf und Bornhöved. Besondere Aufmerksamkeit erwarb er sich landesweit im Revolutionsjahr 1848 mit seiner Schrift .Ansprache an die Insten und Tagelöhner in den Landesdi-stricten des Herzogthums Holstein', in der er zu Ruhe und Ordnung aufrief. Bruhn hatte sich schon während sei-ner Drelsdorfer Zeit als Gründer von Arbeiterhäusern große Anerkennung erworben und wurde für sein Wirken zum Ritter vom Danebrogsorden ernannt und galt von da an als eine ausgewiesene Autorität. Auch im Kirchspiel Bornhöved widmete er sich mehr der Seelsorge denn den auferlegten Amtspflichten.
9 Nach dem Konkurs des Gutes Depenau 1815 wurden die Dörfer Wankendorf und Stolpe 1815 separat verkauft. Die Polizeiaufsicht sowie die Verwaltung blieben aber weiterhin bei der Gutsverwaltung.
10 Alle folgenden Zitate soweit nicht anderweitig gekennzeichnet folgen: Landesarchiv Schleswig, Abt. 125. Bd. XV. 6.3. Nr.21. Die Ermittlung der Unterlagen und deren Transkription besorgte Uwe-Jens Brauer, Damlos.
11 Text unleserlich.
12 Über das Phänomen der Massenarmut in den Herzogtümern erschienen zahlreiche Publikationen in den Jahr-zehnten ab 1815 bis Mitte des Jahrhunderts. Der Streit, ob die Ursache in den äußeren Umständen oder ob der Arme an seinem Zustande selbst schuld sei, wurde vehement geführt. Vgl. dazu Ilse Büxenstein: Vorschläge zeitgenössischer Publizisten zur Verbesserung der Armenversorgung in den Herzogtümern Schleswig und Hol-stein 1815-1842. Kiel 1983.
13 Das in Wankendorf um 1800 vom Gut errichtete Armen- und Witwenhaus mit vier Wohnungen, Dorfstraße 28, existierte spätestens nach dem letztmaligen Verkauf der Dörfer 1823 nicht mehr als Institution. Doch schon im Verkaufsvertrag von 1815 wurde nicht auf die Sicherung des Bestandes hingewiesen. Die Armencomune hatte keinen Zugriff mehr auf auch für Arme bezahlbaren Wohnraum. - Die letzte Dorfherrschaft verkaufte das Gebäu-de schließlich um 1850 an zwei der Bewohner. Ein Vorgang, der Angesichts des heutigen Ausverkaufes von kommunalen Wohnungen an private Investoren zum Nachdenken anregen sollte, denn die beschriebenen Zeiten können, wie die Gezeiten der Geschichte immer wieder aufzeigen, eher früher als später wiederkommen.
14 Mitgeteilt von Tischler Christian Petersen, Wankendorf; veröffentlicht von Otto Kock in: Die Heimat, 36. Jg., 1926. S. 223. Der Vater von Petersen war über viele Jahre der Polizist im Gutsbezirk Depenau.
15 1854 wurden vom dänischen Staat für den Landesteil Schleswig zwar der Gerichtsstand und die Patrimonial-gerichtsbarkeit der Güter aufgehoben, doch die Polizeiaufsicht verblieb weiterhin bei den Gutsbesitzern. In Hol-stein dagegen blieb zunächst noch alles beim Alten.
16 Ulrich Lange (Hrsg.): Geschichte Schleswig-Holsteins. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neumünster 1996, S.320.
17 Vgl. Volker und Heinrich Griese: ..Wie alles sich angefangen" oder "wie die Unterthanen von dem Herrn Obrister regieret". - Materialien zur Leibeigenschaft im Gutsbezirk Depenau. In: Jahrbuch für Heimatkunde im Kreis Plön. Plön 2006, S.182ff.
18 U. a. Brief Landrat Dr. Max Kiepert an Oberpräsident Heinrich Kürbis vom l. Juli 1925, Landesarchiv Schleswig.

Mein Dank gilt Herrn Uwe-Jens Brauer, Damlos, für Bereitstellung der Unterlagen.